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Die Wahrheit über das Ausmaß der Arbeitslosigkeit

Zehn Millionen EU-Bürger suchen offiziell seit mehr als einem Jahr einen Job. In Wirklichkeit, das offenbart jetzt eine Bertelsmann-Studie, sind es viermal so viele. Auch Deutschland trickst.

Von Chefkorrespondentin für Wirtschaftspolitik 

Quelle: hier nachzulesen

Agentur für Arbeit

Immer mehr Europäer finden dauerhaft keine Arbeit. Mehr als zehn Millionen Menschen, rund vier Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, sind schon mehr als ein Jahr ohne Job. Tatsächlich aber ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen noch viel höher, als offiziell ausgewiesen, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, für die Daten der Europäischen Arbeitskräfteerhebung (AKE) ausgewertet wurden. Das gilt auch für Deutschland.

In Südeuropa ist Langzeitarbeitslosigkeit im Zuge der Wirtschaftskrise längst zum Massenphänomen geworden. Trauriger Spitzenreiter ist Griechenland, wo fast jeder fünfte Erwerbsfähige dauerhaft keine Stelle findet. In Spanien und Kroatien zählt jeder Zehnte zu den Langzeitarbeitslosen.

Deutschland steht zwar mit einer Quote von knapp zwei Prozent vergleichsweise gut da. Doch auch hierzulande sucht fast jeder zweite Arbeitslose schon seit mindestens zwölf Monaten vergeblich nach einem Job, knapp ein Drittel ist sogar mehr als zwei Jahre auf Stellensuche. Und trotz des anhaltenden Beschäftigungsbooms verharrt die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit 2012 nahezu unverändert bei rund einer Million.

Die stille Reserve

Wie die Studie zeigt, sind in Wirklichkeit jedoch noch weit mehr Menschen dauerhaft vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Denn in den meisten EU-Ländern dienen groß angelegte Frühverrentungsprogramme und teils großzügige Regeln für Invalidenrenten dazu, Arbeitslosigkeit zu kaschieren. Überdies haben viele Betroffene längst resigniert und melden sich gar nicht mehr beim Arbeitsamt.

Die Experten klassifizieren sie als „Langzeitnichterwerbspersonen mit Arbeitsmarktorientierung“, auch stille Reserve genannt: Menschen, die gerne arbeiten würden, aber keine Stellenangebote bekommen. Addiert man die verdeckte Langzeitarbeitslosigkeit zur offiziell ausgewiesenen Quote hinzu, wird deutlich, wie viel sozialer Sprengstoff sich hier zusammenbraut.

Denn EU-weit sind 17 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 25 und 64 Jahren langfristig ohne Job. In Griechenland, Kroatien und Polen ist jeder Vierte von diesem Schicksal betroffen. In Italien und Spanien gilt dies für mehr als jeden Fünften und in Frankreich für gut 16 Prozent der Erwerbsfähigen. Auch in Deutschland ist die Gesamtquote mit fast zwölf Prozent recht hoch. Am besten von allen 28 EU-Staaten steht Schweden da, wo rund acht Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung dauerhaft keine Arbeit finden.

Ruhestand als Arbeitsmarktkosmetik

Vor allem der Vorruhestand dient vielen EU-Staat als Arbeitsmarktkosmetik. Neben Griechenland setzen vor allem ehemalige Ostblockstaaten die Frührente in großem Umfang ein, um den Arbeitsmarkt zu entlasten. Tschechien, Kroatien und Slowenien schicken rund elf Prozent ihrer erwerbsfähigen Bevölkerung frühzeitig in Rente. Auch in Österreich ist der Vorruhestand verbreitet (7,5 Prozent).

Deutschland liegt mit vier Prozent im Mittelfeld, zumal die Profiteure der großen Vorruhestandsprogramme der Neunzigerjahre in dieser Quote nicht mehr erfasst sind, da sie längst das reguläre Rentenalter erreicht haben. Musterschüler in der EU ist Belgien, das ganz auf die sozialpolitisch umstrittene Praxis der Frühverrentung verzichtet.

Die staatlichen Leistungen bei Invalidität oder Erwerbsminderung werden in manchen Ländern ebenfalls genutzt, um ein „sozialverträgliches“ Ausscheiden aus dem Arbeitsleben zu ermöglichen. In den Niederlanden gelten mehr als fünf Prozent der Erwerbsfähigen als Invaliden. In Dänemark beziehen sogar sieben Prozent der 25- bis 64-Jähren Erwerbsminderungsrenten, in Tschechien dagegen lediglich 0,6 Prozent. Dabei dürften die Arbeitsbedingungen in dem ehemaligen Ostblockstaat härter sein als in den beiden westeuropäischen Ländern.

Deutschland liegt mit 2,4 Prozent im Mittelfeld. Enorme Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten gibt es auch beim Umfang der stillen Reserve. Während sich in Schweden oder Tschechien nur 1,5 Prozent der Erwerbsfähigen resigniert vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, zählt fast jeder zehnte Italiener zur Gruppe der Langzeitnichterwerbstätigen, die in der offiziellen Statistik nicht auftauchen.

Das Problem der Langzeitarbeitslosen

Langfristige Arbeitslosigkeit verursache hohe Kosten für den Einzelnen und die Gesellschaft, heißt es in der Studie. „Durch die andauernde Beschäftigungslosigkeit kommt es zur Entwertung von Humankapital und Bildungsinvestitionen, sinkende Beschäftigungsquoten verringern die Arbeitsmarkteffizienz und das Wachstumspotenzial einer Wirtschaft.“ Für den Einzelnen drohten Armut und soziale Ausgrenzung, und viele litten an psychischen und gesundheitlichen Problemen.

Im Süden Europas habe die Langzeitarbeitslosigkeit inzwischen „historische Ausmaße erreicht“, stellen die Autoren fest. Ohne weitreichende Reformen werde sie zu einem dauerhaften Strukturproblem in diesen Ländern. In Deutschland dagegen gehe es darum, den zunehmend „harten Kern“ von schwer vermittelbaren Gruppen wie Älteren, Geringqualifizierten oder gesundheitlich eingeschränkten Personen gezielt zu fördern.

Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit stellt in einer Analyse zur Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland „Verfestigungstendenzen“ fest. Der Abbau der Arbeitslosigkeit und der Langzeitarbeitslosigkeit sei seit 2011 zum Erliegen gekommen. Neue Stellen gingen überwiegend an Zuwanderer. Innerhalb der Gruppe der Langzeitarbeitslosen steige zudem die Dauer der Arbeitslosigkeit an, konstatieren die IAB-Forscher. 54 Prozent der Betroffenen seien mindestens schon zwei Jahre ohne Job.

„Inzwischen sind wir in Deutschland an einem Punkt angelangt, wo es nur noch mit extrem hohem Aufwand möglich ist, weitere Verbesserungen zu erreichen“, sagt der Chef des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Hilmar Schneider. Denn je länger jemand erwerbslos sei, desto mehr verschlechterten sich seine Chancen auf einen Wiedereinstieg. Die meisten Langzeitarbeitslosen bräuchten intensive Betreuung mit speziell geschultem Personal, denn viele hätten große psychische und soziale Probleme.

„Hier reicht ein Sachbearbeiter, der den Fall verwaltet, nicht aus“, sagt der Arbeitsmarktforscher. Die Bundesagentur für Arbeit ist bereits dabei, externe Anbieter, sogenannte Coaches, für eine intensive Betreuung von Langzeitarbeitslosen einzubinden. Schneider mahnt allerdings eine scharfe Qualitätskontrolle an, um die Effizienz solcher Maßnahmen sicherzustellen. Überdies plädiert der Ökonom dafür, Langzeitarbeitslose auch auf einem staatlich subventionierten zweiten Arbeitsmarkt unterzubringen. Denn gemeinnützige Arbeit könne eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt darstellen. „Allerdings darf man den zweiten Arbeitsmarkt nicht zu bequem machen“, mahnt Schneider, „sonst wollen die Menschen ihn gar nicht mehr verlassen.“

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